Wegweisendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 04.03.2021 C-473/19 und C- 474/19 zum Artenschutz

Der Europäische Gerichtshof hat in einer aktuellen Entscheidung vom 04.03.2021 in den verbundenen Rechtssachen C-473/19 und C- 474/19 zur Auslegung von Artikel 12 Abs. 1 der Richtlinien 92/43/EWG („FFH-Richtlinie“) den Artenschutz von wild lebenden Tieren und Pflanzen und den Schutz bedrohter Lebensräume gestärkt, was künftig insbesondere für die Genehmigungspraxis bei staatlichen Projekten wie etwa Ökologischen Flutungen oder CEF-Maßnahmen relevant sein wird:

1.

Dabei hat sich der EuGH insbesondere grundlegend zum Regel-Ausnahmeverhältnis von Artikel 12 Abs. 1 und Art. 16 der FFH-Richtlinie geäußert.

Wesentlich ist, dass das in Art. 12 der Richtlinie definierte Verbot der Tötung und Zerstörung bedrohter Arten und deren Lebensgrundlagen nach der Entscheidung des EuGHs weit reichen soll. Das in Art. 12 der Richtlinie vorgesehene und von den Mitgliedstaaten umzusetzende Verbot von artgefährdenden Maßnahmen ist nach der Entscheidung des EuGHs insbesondere gerade nicht daran geknüpft, dass die Maßnahme „gezielt“ die Tötung bzw. Störung der Lebensgrundlagen bezweckt. Das Verbot ist außerdem auch nicht vom generellen Erhaltungszustand der Art abhängig.

Solche Umstände können nach der Entscheidung des EuGHs allenfalls im Rahmen der Ausnahmeregelungen des Art. 16 der FFH-Richtlinie beachtlich sein, die jedoch weitere strenge tatbestandliche Voraussetzungen haben und restriktiv auszulegen sind, um Umgehungen der in Art. 12 der Richtlinie vorgesehenen Verbote zu verhindern und den bezweckten effektiven Artenschutz zu gewährleisten.

Artikel 12 Abs. 1 der FFH-Richtlinie der Europäischen Union lautet:

Die Mitgliedstaaten treffen die notwendigen Maßnahmen, um ein strenges Schutzsystem für die in Anhang IV Buchstabe a. genannten Tierarten in deren natürlichen Verbreitungsgebieten einzuführen; dieses verbietet: alle absichtlichen Formen des Fangs oder der Tötung von aus der Natur entnommenen Exemplaren dieser Arten; jede absichtliche Störung dieser Arten, insbesondere während der Fortpflanzungs-, Aufzucht-, Überwinterungs- und Wanderungszeiten; jede absichtliche Zerstörung oder Entnahme von Eiern aus der Natur; jede Beschädigung oder Vernichtung der Fortpflanzungs- oder Ruhestätten.“

Artikel 16 Abs. 1 der Habitat-Richtlinie bestimmt:

Sofern es keine anderweitige zufriedenstellende Lösung gibt und unter der Bedingung, dass die Populationen der betroffenen Art in ihrem natürlichen Verbreitungsgebiet trotz der Ausnahmeregelung ohne Beeinträchtigung in einem günstigen Erhaltungszustand verweilen, können die Mitgliedsstaaten von der Bestimmung der Art. 12, 13 und 14 sowie des Art. 15 Buchstaben a) und b) im folgenden Sinne abweichen:

Zum Schutz der wild lebenden Tiere und Pflanzen und zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume,

zur Verhütung ernstlicher Schäden, insbesondere an Kulturen und in der Tierhaltung sowie an Wäldern, Fischgründen und Gewässern sowie an sonstigen Formen von Eigentum,

im Interesse der Volksgesundheit und der öffentlichen Sicherheit oder aus anderen zwingenden Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses, einschließlich solcher sozialer oder wirtschaftlicher Art oder positiver Folgen für die Umwelt;

zu Zwecken der Forschung und des Unterrichts, der Bestandsauffüllung und Wiederansiedlung und der für diese Zwecke erforderlichen Aufzucht, einschließlich der künstlichen Vermehrung von Pflanzen; um unter strenger Kontrolle, selektiv und in beschränktem Ausmaß die Entnahme oder Haltung einer begrenzten und von den zuständigen einzelstaatlichen Behörden spezifizierten Anzahl von Exemplaren bestimmter Tier- und Pflanzenarten des Anhangs IV zu erlauben (...)“ 

2.

Der Europäische Gerichtshof hatte zur Auslegung der Richtlinie im Zusammenhang mit einer Abholzanmeldung der nationalen Forstverwaltung in Schweden zu entscheiden, die der Auffassung war, dass die geplante Entfernung fast aller Bäume in einem Waldgebiet einer schwedischen Gemeinde mit der schwedischen Artenschutzverordnung im Einklang stehe, die wiederum europarechtskonform sei.

a)

Der EuGH hat in der aktuellen Entscheidung im Hinblick auf die Vorlagefragen – teilweise abweichend von der Empfehlung der deutschen (!) Generalanwältin, was ungewöhnlich ist – zunächst klargestellt, dass sich aus Art. 5 der Vogelschutzrichtlinie ergibt, dass die Mitgliedstaaten der EU verpflichtet sind, einen vollständigen und wirksamen Rechtsrahmen zum Erhalt der Arten sowie der Fortpflanzungs- und Ruhestätten der unter diese Richtlinie fallenden Vögel zu schaffen. Dies gilt – so der EuGH – keineswegs nur für bestimmte im Anhang I der Richtlinie ausdrücklich genannten Arten, was aus dem in Art. 191 Abs. 2 AEUV verankerten europäischen Ziel folgt, ein hohes Umweltschutzniveau und damit auch einen vollständigen und wirksamen Schutz wild lebender Vogelarten zu erreichen.

Keine Rolle spielt es daher, ob die betroffenen Vogelarten konkret unter Anhang I der Richtlinie fallen, ihr Bestand in irgendeiner Weise akut bedroht ist, oder ihre Population auf lange Sicht rückläufig ist.

b)

Außerdem hat der Europäische Gerichtshof entschieden und bekräftigt, dass die in Art. 12 Abs. 1 Buchstabe a bis c der FFH-Richtlinie vorgesehene Schutzregelung nicht davon abhängt, dass eine bestimmte verbotenen Maßnahme zusätzlich auch mit einem Risiko verbunden ist, das sich auch negativ auf den Erhaltungszustand der betroffenen Art auswirkt. Der Europäische Gerichtshof begründet dies damit, dass es die praktische Wirksamkeit der Verbotsnorm des Art. 12 Abs. 1 gefährden könnte, wenn man das in Art. 12 der FFH-Richtlinie verankerte Verbot vom Risiko einer negativen Auswirkung der in Rede stehenden Maßnahme auf den Erhaltungszustand der betroffenen Art abhängig machen würde. Denn solches würde die Tür zu einer Umgehung der nach Art. 16 der Richtlinie vorgesehenen Prüfung der dort genannten strengen Ausnahmetatbestände öffnen.

Daher hat der Europäische Gerichtshof bekräftigt, dass Art. 12 Abs. 1 der FFH-Richtlinie nicht dahingehend ausgelegt werden kann, dass der Schutz für Arten, die einen günstigen Erhaltungszustand erreicht haben, nicht gilt, sondern auch diese unter den Schutz des Art. 12 der Richtlinie fallen. Mit anderen Worten: die Verbotsvorschriften in Art. 12 der FFH-Richtlinie gelten nicht etwa erst dann, wenn sich der Erhaltungszustand der betroffenen Art zu verschlechtern droht.

3.

Vor dem Hintergrund der Entscheidung des EuGHs vom 04.03.2021 ist auch die auf Art. 44 Abs. 5 BNatschG beruhende innerstaatliche Praxis in der Bundesrepublik neu zu bewerten.

Denn bei einer Tötung geschützter Arten oder einer Beeinträchtigung der in Art. 12 der FFH-Richtlinie genannten Lebensgrundlagen dürfte – anders als es bislang in der behördlichen Praxis häufig entsprechend Art. 44 Abs. 5 BNatschG erfolgt ist – ein Verweis auf den ansonsten günstigen Erhaltungszustand der Art nicht ausreichen, sondern stets eine Prüfung der strengen Ausnahmevoraussetzungen (Art. 16 der FFH-Richtlinie) erforderlich sein.

Erfolgt seitens der handelnden Behörden mit einer entsprechenden – in der legislativen und behördlichen Praxis der Mitgliedstaaten bis lang leider sehr verbreiteten – Begründung keine Prüfung der Ausnahmevoraussetzungen (Art. 16 der FFH-Richtlinie), kann die behördliche Maßnahme allein deswegen rechtswidrig sein.